Laufzeit: vom 16. April bis 20. Juni 2004
Ort: Max-Samuel-Haus Rostock
Am Ende einer Reihe von Aufzeichnungen, mit denen Marianne Boehme ihre malerischen Unternehmungen begleitet hat, finden sich mit dem Datum vom 18. November 2001 folgende Zeilen:
„Ich möchte ein Meer von Tränen malen
Darunter der endlos heitere Himmel
der mich nie hören wird
der mir nie antworten wird
in seiner unendlichen Offenheit“
Das ist wohl gleichermaßen Bekenntnis einer betroffenen Seele zwischen ersehntem Glücksanspruch und erfahrener Trauer und ebenso eine künstlerischen Zielstellung ihrer malerischen Bemühungen. Im Januar 2004 erfüllten sich Leben und Werk Marianne Boehmes mit ihrem plötzlichen Tod. Ihr Wirken als freischaffende Künstlerin umfasste gut 25 Jahre. Marianne Boehme ist im herkömmlichen Sinne keine „gelernte Malerin“, ihre Entwicklung geschah autodidaktisch, neudeutsch könnte man es mit „learning by doing“ beschreiben. Schritt für Schritt hat sie sich den Umgang mit Pinsel, Farbe und Leinwand erobert, macht ihre Erfahrungen, lernt aus Fehlern und Irrwegen, schöpft ihre malerischen Möglichkeiten aus und entdeckt immer wieder neue Ausdrucks- und Gestaltungsweisen. Über Lehrer, Vorbilder, Künstlerfreunde wissen wir nichts. Es scheint alles aus ihr selbst zu kommen, ja herauszubrechen. Da war gleichermaßen Liebe und Zwang zur Malerei im Spiel. Immerhin bricht die erfolgreiche, promovierte Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin ihre wissenschaftliche Karriere reichlich abrupt ab, um sich seit 1977 ganz der Kunst hingeben zu können. Da hatte sie einige Jahre eben jener wissenschaftlichen Forschungsarbeit wegen in Paris gelebt. Liegt da ein Schlüssel für dieses unbedingte Kunstwollen, inmitten dieser Stadt der Künste und der Maler? Paris ist zu dieser Zeit immer noch ein Mekka für Künstler, grade für Maler. Mit der Begeisterung und den Anregungen,die sie dort empfangen haben mag, ging Marianne Boehme 1979 über Hamburg nach Berlin, auch oder vor allem des Schriftstellers Edgar Hilsenraths wegen, mit dem sie sich später ehelich verband. Nun können wir die Frage nach dem Sinn, dem Besonderen und Einmaligen dieser Bilder stellen. Da ist zuerst die Feststellung der nahezu konsequenten Gegenstandslosigkeit, der gezielten Form- und Farbabstraktion in fast allen Schaffensphasen. Da ist die auffällige Farbdominanz in einigen Bildserien; Blau oder Rot z.B.. Da gibt es amorphe Formdynamik, expressive Farbkontraste, flirrende Raumstrukturen und dann wieder weiche Übergänge, beruhigte Bildrhythmik, konzentrierte Farbsensibilität. Es gibt offensichtlich keinen übergreifend-verbindlichen Form- und Farbkanon in diesem Oeuvre, keine stilistische Einheit im Gesamtwerk. Sie ist wohl auch gar nicht angestrebt. Farbe und Form scheinen sich aus der Intuition der augenblicklichen seelischen Verfassung, aus einer Emotion, einem intimen Erleben heraus zu entwickeln und sich im Malprozeß unter eben solchen Voraussetzungen zur endgültigen Gestaltung hin zu verändern. „Die Bilder sind in mir“, so kann man es in den werkbegleitenden Notizen der Malerin lesen: „Das Rot-Blau-Bild, das seit meiner Krankheit in mir ist“ heißt es da, oder: „Gestern Abend und heute Morgen tatsächlich ein neues Bild in mir: Rot gegen Blau, ich, Tochter meines Vaters, stemme mich gegen meine Mutter…“ So lassen sich diese Bilder also auch als Psychogramme ihrer Autorin lesen: in der Auswahl der Farben und ihrer Komposition zu einander offenbaren sich Seelenzustände aus tiefgreifenden Erlebnissen. Dem Betrachter werden sich solche Zusammenhänge freilich schwer oder kaum erschließen. Manchmal kann uns ein Titel Wegweisung geben: auf den Keilrahmen des „Elternpaares“ befindet sich die Notiz: „Harmonie wäre also doch möglich gewesen“. „d’Adieu“ und „Lorys Krankheit und Tod“ geben Hinweise auf Trennung und endgültigen Abschied. Ein „Orientalisches Gewölbe“, ein „Unerbittlich eingerammter Keil“ oder „Kontrastwelten“ wiederum beschreiben schlicht bildhafte Zustände. Manches Bild mag im Nachhinein seine Benennung erfahren haben.
Ernst Barlach riet einmal, man möge in seine Arbeiten nicht allzu viel hineinrätseln, denn es liege doch alles in der Gebärde. Vielleicht sollten auch wir uns in dieser Ausstellung vor dem Hineinrätsel hüten, und unserer eigenen inneren Stimme lauschen, wenn wir uns den geheimnisvollen Botschaften der Farben und Formen hingeben. Es ist ein Vorzug solcher Art Malerei, das ihr meditativer Charakter uns in ein sehr persönliches Verhältnis zum Bild versetzen kann und unsere eigenen Erfahrungen und Befindlichkeiten zur Kommunikation aufgerufen werden.
Die Kunstgeschichte hat für diese Art Malerei die Bezeichnungen einer „konstruktiven“, „magischen“, „farbgestischen“ und „lyrischen“ Abstraktion gefunden. Da ist vom „sich Verlieren im Malprozeß“ die Rede, von „Vergeistigung des Bildaktes zur magischen Symbolsprache der subjektiven Idee“ und von „Trance-Zuständen“. „Kosmische Symbolassoziationen“ werden zitiert und „musikalisch-dialogische Proportionalakkorde“ beschworen, „Elementarisierung der Ausdrucksgestik“ und „Kunst als Metamorphose und beständige Umwandlung“. Das besagt viel und erklärt wenig und trifft doch letztlich auf die Kunst der Marianne Boehme zu. Wie eine Insel der Harmonie und Glückseligkeit mutet eine Werkgruppe an, der wir in unserer Ausstellung ein geschlossenes Kabinett eingeräumt haben. In den Jahren 1989/1990 entstand eine Folge von Meeresbildern, die von einer nahezu impressiven Leichtigkeit getragen werden. Diese Bilder atmen eine körperliche und seelische Entspannung aus der Hingabe an Meer, Licht und Wind, an elementares Naturerleben. Die malerische Intensität erfährt eine neue Dimension, aus der Zukünftiges sich andeutet und doch ein Schlusspunkt im Schaffen der Malerin bleiben musste.
Klaus Tiedemann, Eröffnungsrede, Rostock, den 16. April 2004